Das Krankheitsbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) – manchmal auch „Alkoholsyndrom“ oder umgangssprachlich „Alkoholbehinderung“ genannt – wurde zwar bereits vor über 100 Jahren beschrieben, es hat aber noch viele Jahrzehnte gedauert, bis sich die Erkenntnis wirklich durchgesetzt hat, dass auch ein geringer Alkoholkonsum in der Schwangerschaft dem Kind schaden kann.
Und auch heute noch ist die Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) nicht allen Fachleuten im Detail bekannt, da Krankheitsbild und Diagnose sehr komplex sind.
Für den schnellen Überblick – das sind die Themen in diesem Artikel:
- Alkohol in der Schwangerschaft: historischer Rückblick
- 1973: Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) wird als Krankheitsbild anerkannt
- Auswirkungen von Alkohol in der Schwangerschaft werden heute noch unterschätzt
- Die Auswirkungen des Fetalen Alkoholsyndroms sind auch im Erwachsenenalter präsent – aber die Diagnose ist schwieriger
- Das Fetale Alkoholsyndrom geht die ganze Gesellschaft an, nicht nur Schwangere
Alkohol in der Schwangerschaft: historischer Rückblick
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Noch bis in das Jahr 1990: drei Gläser Wein pro Tag
Was heute als selbstverständlich gilt, wurde erst um die Jahrtausendwende zum Standard: Die Empfehlung zu „Null Promille in der Schwangerschaft“. Noch 1990 war man sich, laut eines Artikels in der Deutschen Hebammen-Zeitschrift der Ansicht, dass erst drei Gläser Wein oder Bier pro Tag eine schädliche Menge Alkohol darstellen würden.
Dem Artikel zufolge war man sich in den Lehrbüchern um 1940 noch nicht sicher, ob der Genuss von Alkohol gefährlich für das Ungeborene ist oder inwieweit es sich um erbbedingte Auswirkungen handle.
Noch früher wurde Schwangeren in der Regel empfohlen, die gewohnte Lebensweise fortzuführen, was Alkoholgenuss offensichtlich nicht ausschließt, je nach „gewohnter Lebensweise“. In einem Hebammenlehrbuch von 1920 hieß es: „Wein und Bier können die Schwangeren trinken, die daran gewöhnt sind, aber nur mit großer Zurückhaltung, da ein Übermaß an Alkoholgenuss nicht nur der Frau selbst, sondern vor allem der Gesundheit des Kindes Gefahren bringen kann.“
Mehr Informationen gibt es im Artikel „Der kultivierte Rausch“ in der DHZ 08/2016.
„Groaning Ale“:
vom Brauch des Bieres zur Geburt
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Früher war es auch durchaus üblich, während der Wehen Alkohol zu trinken, häufig in Form von Bier. In Großbritannien gab es dafür sogar ein spezielles „Groaning Ale“ für die Geburt. Dabei sollte Alkohol den Uterus entspannen und die Wehen erträglicher gestalten. Alkohol wurde auch in den 1960er- und 1970er-Jahren gelegentlich eingesetzt, mit dem Ziel Frühgeburten zu vermeiden. Solche gefährlichen Praktiken für Mutter und Kind wurden bereits Anfang der 1970er-Jahre in der wissenschaftlichen Welt kritisiert. Zu diesem Zeitpunkt gab es zunehmend Belege über die schädigende Wirkung von Alkoholkonsum auf die Entwicklung von Kindern im Mutterleib.
Auch sonst galt Alkohol in früheren Jahrhunderten weitgehend als Allzweck-Heilmittel. Im neunzehnten Jahrhundert empfahlen Ärzte zum Beispiel Sekt gegen die morgendliche Übelkeit.
1973: Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) wird als Krankheitsbild anerkannt
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Im Jahr 1973 beschrieben zwei US-amerikanische Mediziner ein Krankheitsbild von Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft getrunken hatten, und prägten den Betriff „fetal alcohol syndrome“. Durch die Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „The Lancet“ wurde das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) weltweit bekannt und bald als eine der wichtigsten Ursachen für eine angeborene geistige Entwicklungsstörung anerkannt.
Alkoholsyndrom und Alkoholbehinderung – FAS hat viele Namen
Das Syndrom wurde allerdings schon 1968 von französischen Medizinern beschrieben, aber nicht ausreichend wahrgenommen. Der erste wissenschaftliche Hinweis auf pränatale Alkoholschäden stammt sogar bereits aus dem Jahr 1899: Ein Gefängnisarzt hatte festgestellt, dass Trinkerinnen, die zuvor bereits Totgeburten und geschädigte Kinder zur Welt gebracht hatten, in der erzwungenen Abstinenz des Gefängnisses wieder gesunde Kinder bekamen.
FASD und FAS – Definition und Symptome
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft kann beim Kind ein breites Spektrum an Folgeerscheinungen verursachen wie Wachstumsauffälligkeiten, körperliche Auffälligkeiten, Intelligenzminderung, Schwierigkeiten bei Sprachentwicklung, motorischer Koordination, räumlicher Wahrnehmung, Lern- und Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit und Auffälligkeiten im Verhalten.
Die alkoholbedingten pränatalen Schädigungen können in ihrer Auswirkung unterschiedlich ausgeprägt sein und werden unter dem Oberbegriff Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) zusammengefasst. Dazu gehören folgende Störungsbilder:
Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS): Vollbild der Störung und schwerste Form der Alkoholschädigung. Diese ist durch das Auftreten von Wachstumsstörungen, fazialen Auffälligkeiten und Störungen des zentralen Nervensystems gekennzeichnet.
Das Partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS): Bei diesem Störungsbild treten nicht in allen Bereichen die Merkmale des FAS auf. Es können beispielweise nur einige der fazialen Auffälligkeiten zusammen mit Störungen des zentralen Nervensystems auftreten.
Die Alkoholbedingte Entwicklungsneurologische Störung (ARND): Es handelt sich um Störungen des zentralen Nervensystems durch die Alkoholexposition im Mutterleib. Die Auffälligkeiten äußern sich beispielsweise in Form von Verhaltens- und Lernschwierigkeiten.
Auswirkungen von Alkohol in der Schwangerschaft werden heute noch unterschätzt
Auch heute noch werden die Auswirkungen von Alkohol in der Schwangerschaft von den Mitmenschen, der Gesellschaft und auch von medizinischen Fachkräften oft unterschätzt. Zwar ist die Null-Promille-Grenze in der Schwangerschaft heute unstrittig als Gold-Standard akzeptiert. Laut einer Studie des Münchner Instituts für Therapieforschung aus dem Jahr 2019 werden die Zahlen für Deutschland, wie viele Kinder von FASD betroffen sind, allerdings weiterhin oft unterschätzt. Laut dem Münchner Forschungs-Team kamen 2014 in Deutschland 12.650 Kinder mit FASD zur Welt. Das Team hatte dafür internationale Übersichtsstudien sowie eine Untersuchung des Robert Koch-Instituts ausgewertet.
Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) werden auch heute noch oft sehr spät diagnostiziert, weil nicht alle medizinischen Fachkräfte mit den Störungsbildern gut vertraut sind. Zur FASD gibt es für Deutschland bisher keine flächendeckende Prävalenzstudie. Es gibt nur statistisch geschätzte Inzidenzen, die als Grundlage für Einschätzungen zur Häufigkeit der Erkrankung in der deutschen Bevölkerung dienen.
Allgemein wird inzwischen angenommen, dass in Deutschland jedes Jahr mindestens 10.000 Kinder mit der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) geboren werden, wenn nicht mehr. Von diesen haben wiederum mindestens 4.000 Kinder das Vollbild „Fetales Alkoholsyndrom“, die schwerste Form. Diese Kinder sind körperlich und geistig beeinträchtigt. Laut dem Robert Koch-Institut ist FAS in Deutschland damit die häufigste Ursache für eine geistige Behinderung und etwa doppelt so häufig wie Trisomie 21.
Die Anzahl an FASD-Betroffenen in Deutschland könnte in Wirklichkeit höher liegen. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass Schwangere aufgrund des hohen gesellschaftlichen Erwartungsdruckes nicht über ihren tatsächlichen Alkoholkonsum berichten. Dies erschwert die Erfassung des Konsums während der Schwangerschaft und auch die Erstellung der FASD-Diagnose, insbesondere bei betroffenen Kindern, die nicht alle Merkmale des Vollbildes (FAS) zeigen oder die nicht bei ihren biologischen Eltern leben.
Die Auswirkungen der Fetalen Alkoholspektrumstörung sind auch im Erwachsenenalter präsent – aber die Diagnose ist schwieriger
Es gibt sehr unterschiedliche Ausprägungen der Schädigung durch Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Bei Kindern mit dem Vollstörungsbild (FAS) finden sich neben Auffälligkeiten des Zentralen Nervensystems auch die typischen äußerlichen Merkmale wie im Gesicht die sehr dünne Oberlippe und verflachte Rinne zwischen Nase und Lippen.
Aber auch Kinder mit FASD, denen man die Beeinträchtigungen äußerlich nicht ansieht, haben im Alltag mit denselben Problemen zu kämpfen: Viele betroffene Kinder werden ihr Leben lang Begleitung, Pflege und Betreuung brauchen. Und sie brauchen unser Verständnis und unsere Zuneigung, die ihnen den schwierigen Weg leichter machen können.
Wichtig ist es, die Fetale Alkoholspektrumstörung möglichst frühzeitig zu erkennen, um die betroffenen Kinder bestmöglich unterstützen und fördern zu können. Eine Diagnose im Erwachsenenalter zu stellen kann zudem schwieriger sein, wenn beispielsweise äußerliche Merkmale der Alkoholschädigung nicht mehr so deutlich zu erkennen sein sollten.
Bei erwachsenen Betroffenen können beispielsweise Schwierigkeiten in der Bewältigung des Alltags oder beim Nachgehen einer regulären Beschäftigung auftreten.
FASD geht die ganze Gesellschaft an, nicht nur Schwangere
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Zwar ist es für das Kind allein entscheidend, ob die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol trinkt oder nicht. Aber die Droge Alkohol ist in unserer Gesellschaft so tief verwurzelt und Alkoholkonsum so normal, dass es Frauen, und selbst Schwangeren, nicht leicht gemacht wird, ohne Alkoholkonsum auszukommen. Zumal viele Menschen das Thema immer noch bagatellisieren, mit Sprüchen wie: „Das eine Glas wird schon nichts schaden.“ Und da etwa ein Drittel der Schwangerschaften ungeplant ist, und der größte Teil der Erwachsenen regelmäßig Alkohol trinkt, kommen jedes Jahr viele ungeborenen Kinder ungewollt mit Alkohol in Kontakt.
Eine Stigmatisierung verhindert zudem oft eine frühe und korrekte Diagnose, weil betroffene Frauen ihren Konsum verheimlichen. Daher ist es wichtig, die Gesellschaft weiter über die Auswirkungen von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft zu informieren. Ebenso wichtig sind leicht auffindbare Hilfsangebote für Frauen, die aufhören wollen zu trinken. Und Anlaufstellen für betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene sowie deren Familien. In Bayern gibt es dafür das Deutsche FASD Kompetenzzentrum Bayern in München.
Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, um den betroffenen Kindern bestmögliche Unterstützung zu geben und damit schwierige Wege leichter zu machen.
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