Introduction

Respira­torische Anpassungs­störung

Respira­torische Anpassungs­störung

Manche Momente verlieren sich im Raum-Zeit-Kontinuum. Die sich gleichzeitig anfühlen, wie eine niemals endende Ewigkeit, und wie ein Wimpernschlag auf Kokain. Unmittelbar nach Claras Geburt war ich in diesem betäubenden Limbo verloren. Meine Erinnerung an sie ist in höhere Dimensionen verzerrt und eine Rekonstruktion auch mithilfe des Arztbriefes und Georgs Erinnerungen nur als niedere Projektion möglich.

Das war passiert

Das, was mit unserer Tochter passierte, war eine schwere respiratorische Anpassungsstörung. Nachdem sie ihre ersten Schreie getätigt hatte, konnte sie nicht mehr eigenständig atmen, wurde blau und verlor ihre Muskelspannung. Es waren die Kinderärzte, die nicht ans Telefon gegangen waren. Eine der Geburtshelferinnen brachte die Kleine daher direkt zur Neugeborenen-Intensivstation (NICU) auf dem gegenüberliegenden Gang.

Eine andere Geburtshelferin setzte sich schnell, nachdem unsere Tochter weggebracht wurde, an mein Bett, und erklärte, was passiert war. Ich brach panisch in Tränen aus.

Entleert

Auch wenn mir klar war, dass sie jetzt in der besten Behandlung war, die sie in einer solchen Situation bekommen konnte: Das Gefühl kompletter Hilflosigkeit war unbeschreiblich. Das Fehlen unserer Tochter. Es war schwer, etwas zu begreifen – wie konnte ein Baby, das gerade noch geschrien hatte, nun nicht mehr atmen? Sie war doch da, sie hatte uns angeschaut. Die Geburt lief doch gut, alles war OK. Doch sie war weg und wir wussten nicht, wann wir sie wiedersehen, was passiert.

Das Gefühl der absoluten inneren Leere, als sei mir etwas ausgerissen worden, war so schmerzhaft, dass ich alles nur noch wie benommen mitbekam. Ich zerfiel in Teile. Irgendwann, als ich noch im Kreißsaal war, kam nochmal jemand an mein Bett und erklärte wieder grob, was passiert war. Man versicherte mir, dass sie nicht mehr in Lebensgefahr schwebe. Tatsächlich passierte das noch einige Male, dass die Worte schwere respiratorische Anpassungsstörung, gefolgt von einer vereinfachten Erklärung, fielen. Dass es keinen Grund gäbe, ich nichts falsch gemacht hätte.

Ich gab mir Mühe, mitzukommen, klar zu hören, zu denken und zu sprechen, doch es kam nichts Wertvolles dabei raus. Es ist mir völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. Nie war mir der Deutschunterricht näher als in diesem Moment.

Ich versuchte zu fragen, ob es ernst sei, ob Spätfolgen zu erwarten sind. Ja, es sei schon eine sehr schwere Anpassungsstörung gewesen. Spätfolgen könne man noch nicht sagen. Diese Frage sollte noch lange umgangen werden.

Eine Begrüßung im Vorbeigehen

Man teilte uns mit, dass man sie nun in einen Inkubator auf der Neugeborenen-Intensivstation verlegen würde. Und dass man sie kurz zu uns hereinbringen könnte, wenn wir das wollten. Und dann rollte man das kleine, stark verkabelte Wunderwerk hinein. Über eine kleine Öffnung an der Seite durfte ich mit dem Finger hineinlangen und sie kurz berühren. Dann wurde sie auch schon weggerollt.

photo by alexander grey via unsplash

Jemand übergab uns erste Fotos, die irgendwann zwischen all diesem Chaos geschossen wurden. Mit geschlossenen Augen und breitem Leukoplast-Streifen unter der Nase, der einen dicken Beatmungsschlauch fixiert. Ich kann sie bis heute kaum ansehen.

Ich bat um eine Milchpumpe, irgendetwas in den verlorenen Wirbeln meines fiebrisch anmaßenden Denkens wollte unbedingt mit dem Pumpen anfangen. Man wollte mich jedoch erstmal auf Station verlegen. Dort würde ich eine Pumpe bekommen, und wir könnten dann bald zu unserer Tochter.

Warten auf Godot

Damit fing das Chaos des Wochenbettes an. Man wollte mich aus Rücksichtnahme zunächst nicht mit anderen frisch gebackenen Mamas auf die Wochenbettstation verlegen, sondern zunächst auf die gynäkologische Station. Doch das dauerte Stunden über Stunden. Stunden, in denen wir nicht bei unserer Tochter waren. Sondern in einer Art Zwischen-, Warte- oder Abstellzimmer, zu zweit. Und in denen ich keine Pumpe bekam, trotz Nachfrage.

Erst etwa acht Stunden nach der Geburt, nach Georgs lauten Protesten, kamen wir endlich zu unserer Tochter auf die NICU. Ein ganzes Zimmer, nur für eine so kleine Person. Stark verkabelt an der Brust und an ein EEG angeschlossen, mit Pulsoximeter am Bein, am Schnullern, mit Sauerstoffzufuhr an der Nase und Zugang an der Hand. Ihr ging es schon viel besser. Uns auch, jetzt, da wir bei ihr waren. Wir wurden angewiesen, die Hände gründlichst zu waschen und zu desinfizieren. Das erste Mal seit unserer Hochzeit vor über drei Jahren nahmen wir dafür die Eheringe ab.

Erste Berührungen

Uns wurde gezeigt, dass wir am besten immer eine Hand auf ihrem Bauch haben, wenn wir sie mit der anderen berühren. Und dass wir sie über einen Schnuller mit speziellem Loch an unserem Finger saugen lassen können. Georg und ich wechselten uns ab: Einer war am Schnuller, der andere an Bauch und Kopf, wahlweise auch Fuß oder Hand. Wir sogen alles an Berührung auf.

photo by liv bruce via unsplash

Auf der NICU bekam ich endlich eine Pumpe. Und pumpte eine Rekordmenge an Kolostrum ab. Bis zum Folgetag pumpte ich alle 2-3 Stunden neben der Kleinen. Ihre Nähe sei förderlich für die Milchbildung, erklärte man mir. Ehrlich gesagt, hätte mich auch nichts mehr aus dem Zimmer geholt.

Auf die gynäkologische Station wurde ich in meiner Abwesenheit verlegt. Ich machte irgendwann am Abend auch einen kurzen Abstecher dorthin, um den Raum zu finden. Meine Zimmergenossin, in Behandlung wegen einer Infektion, hatte ein eineinhalb Wochen altes Baby dabei. Das hatte es ja gebracht mit der gynäkologischen Station.

Am Ende des Tages

Gegen 20 Uhr fassten wir den Entschluss, dass Georg nach Hause fahren sollte. Er war nicht viel weniger gerädert als ich und brauchte dringend Schlaf. Und ich würde ihn fit am nächsten Tag brauchen. Unsere Tochter würde ihn brauchen.

Ich verbrachte den Großteil der Nacht neben ihr.

Die Krankenschwestern waren unglaublich verständnis und liebevoll. Einmal, mitten in der Nacht, durfte ich sogar mit ihrer Hilfe das Köpfchen der Kleinen halten und sie mit der abgepumpten Vormilch füttern. Ein unglaubliches Gefühl.

Ich durfte immer bei ihr sein, wenn ich wollte. Aber eine Krankenschwester riet mir stark, mich hinzulegen. Ich würde die Kraft brauchen, wenn ich meine Tochter zu mir bekommen würde.

So ging ich gegen 2 Uhr nachts doch mal auf das Zimmer, um zwischen den Pumpversuchen zu schlafen. Und auch, um die Stationsschwestern von meiner Existenz zu überzeugen. Etwa zwei Stunden lag ich da, doch natürlich konnte ich nicht schlafen. Ich war viel zu unruhig und ungeduldig, voller Sorge, Angst und Schuld. Und ging danach auch wieder runter zur Kleinen, die dort allein lag.

Allein, in einem Inkubator. In guten Händen, doch nur metaphorisch. Ohne Berührung, ohne Mutter, ohne Vater. Ohne eine Person im Raum.

photo by murray campbell via unsplash

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