Introduction

Ernüchternde Aussichten und Coping ohne Alkohol

Ernüchternde Aussichten und Coping ohne Alkohol

„Wir haben uns gedacht, das macht jetzt wenig Sinn, deinen Vertrag zu verlängern, wir lassen ihn auslaufen. Bewirb dich einfach wieder bei uns, wenn du so weit bist! Also, wenn du dann fertig hast mit Kindern und so.“

Locker-flockig, zwischen Tür und Angel, eine Woche, ehe mein Mutterschutz beginnt, teilt mir mein Vorgesetzter mit, dass er sich mit unserer Chefin besprochen hatte. Mein Vertrag wird doch nicht verlängert, aber ich bin jederzeit wieder willkommen. Ich muss mich dann nur wieder bewerben. Also gar nicht schlimm.

Das eigentliche Gespräch mit meiner Chefin hat sich über einen Monat lang immer wieder nach hinten verschoben. Und so lächle ich meinen Vorgesetzten dankbar und mit Verständnis nickend von meinem Stuhl im Gruppenbüro an, meine mittlerweile riesige Kugel zwischen mit und PC. Eine präsente Erinnerung, was zwischen mir und einem sicheren Arbeitsplatz steht.

Ernüchternde Zukunftspläne

Als mir klar wurde, dass ich gleich zu Beginn meiner neuen Tätigkeit schwanger geworden bin, bin ich davon ausgegangen, dass es sicherlich nicht gut ankommt. Um zumindest ein gutes Arbeitszeugnis zu bekommen, wollte ich mich nicht auf die faule Haut legen. Auf Nachfragen hin, wie ich mir das mit der Elternzeit und dem Arbeiten denn vorstellen würde, gab ich mich ehrlich und realistisch: Dass ich die Arbeit gerne mache, aber mein Vertrag in der Elternzeit, knapp nach dem ersten Geburtstag des Kindes, auslaufen würde. Dass ich nicht bereits nach einem Jahr wieder arbeiten möchte. Dass ich nicht mit einer Verlängerung rechne, ich bin ja sehr schnell schwanger geworden. Dass das auch ok so sei.

„Da kann man doch was machen“

Etwa ab dem 3. Monat begannen Vorgesetzte, Projektmanager und die Chefetage, auf mich zuzugehen. Dass man da was machen werden könne. Dass ich die Arbeit so super mache. Dass man mich gerne verlängern würde. So begann ich zögerlich, mit etwas Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Vielleicht würde es ja tatsächlich klappen, und ich würde doch nicht nach einem Jahr in Elternzeit arbeitslos dastehen.

Und so legte ich mich etwas mehr ins Zeug, als ich körperlich konnte oder sollte. Schlich mich täglich am Vormittag, Nachmittag und oft auch am Abend in die Toilette, um mich zu übergeben. Saß mit Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schwangerschaftsrhinitis und einem Blutdruck, der kaum eine Maus am Leben erhalten würde, auch nach 10 Stunden noch an der Laborbank. Hoch motiviert für den Fall der Fälle. Falls es ja doch klappt mit der Verlängerung. Eigentlich hätte ich nach Hause gehört.

photo by pars sahin via unsplash

Wenn es doch nichts wird

Klar wünschte ich mir, ich hätte früher erfahren, dass es doch nichts wird. Oder zumindest in einem offiziellen Gespräch, nicht an einem späten Freitagnachmittag, an dem ich alleine im Büro war. Oder zumindest nicht mit einem beschwichtigenden Lächeln.

Aber darum soll es hier gar nicht gehen. Sondern um das Gefühl, nachdem sich mein Vorgesetzter ins Wochenende verabschiedet hatte. Als ich, alleingelassen im Büro, zusammensank und in Tränen ausbrach. Und mir klar wurde, verdammt, normalerweise würdest du dich jetzt auf alles scheißen, und dich maßlos betrinken gehen.

Craving und Coping

Was mich an meiner Schwangerschaft überrascht hat: Ich hatte kein einziges Mal den Wunsch, Alkohol zu trinken. Ich war nie in Versuchung, auch den Wein zum Kochen ließ ich bleiben. Es gab keinen Moment, in dem ich wirklich dachte, jetzt wäre es schön, etwas zu trinken. Ich musste mich gar nicht so zusammenreißen, wie ich immer gedacht und erwartet hatte. Der Trinkdruck war weg.

Aber: In dieser Zeit wurde mir bewusst, wie eingefahren mein Coping-Mechanismus war. Wie komplett auf Autopilot ich kleine und große Tragödien des Lebens sofort in Alkohol ertränken möchte. Als gäbe es gar kein anderes, logisch folgendes Verhalten. A bedingt B. Eine Ernüchterung bedingt Betrinken.

Wie geht das denn ohne?

Mit meinem Kopf auf Tastatur und Datenblättern fragte ich mich: OK, ich will aber eigentlich nichts trinken. Ich kann auch gar nicht. Aber was mach’ ich denn jetzt dann? Wie gehe ich mit geschürten und geplatzten Hoffnungen um? Wie machen das denn trockene Menschen? Was soll ich denn jetzt machen?

Ich kenne es ja gar nicht anders.

photo by jakub dziubak VIA UNSPLASH

Der allgegenwärtige Seelentröster

Für mich ist – war – dies das Normalste der Welt. So habe ich das von Mitschülern, Freunden, Filmen, Büchern und Musik vorgelebt bekommen. Der Freund macht Schluss, du verlierst den Job, dein Haus brennt nieder, die Jeans passt nicht mehr. Zeit, die Whiskeyflasche auszupacken. Oder nicht? Wer Kummer hat, muss erstmal trinken. Und zwar nicht bloß ein Glas, sondern in einen Rausch, Übermaß, um den Kummer zu betäuben und zu vergessen. Richtig?

Ohne Trinken zu wollen und ohne Craving fühlte ich mich plötzlich nackt und verlassen. Hilflos und irgendwie alleine ohne diese Trinkregeln. Über zehn Jahre Gewohnheit.

Gehen lassen und loslassen

Nachdem ich mich etwas beruhigt und mein Make-up wieder in Ordnung gebracht hatte, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Zu Hause fiel ich Georg in die Arme und ließ mich gehen. Enttäuscht und verärgert über mich selbst, dass ich mich doch dazu habe hinreißen lassen, an einen besseren Ausgang zu glauben. So kurz vor Schluss.

Nass vor Rotz und Tränen, aber zumindest trocken, ließ ich allmählich, mit kleinen Schrittchen, los von alldem. Die Sorgen um einen festen Arbeitsplatz, leichteren Wiedereinstieg, Karriere. Das alles konnte warten. Es war nicht so wichtig. Das Wichtigste waren die zwei Menschen in dem Raum. Der, der mich im Arm hielt, und der, den ich in mir trug.

Vorbilder

Und diese galt es zu schützen. Vor allem die kleine Kickboxerin. Für ihre Gesundheit lohnte es sich, von alten Mustern Abschied zu nehmen. Während der Schwangerschaft, aber auch nach der Geburt. Denn eine Mutter, die sich ihre Probleme wegzutrinken versucht, verdient die Kleine nicht. Sie verdient bessere Vorbilder, die ihr beibringen, dass Schmerz durch Schnaps nicht schrumpft, sondern wächst und wuchert. Und ihr zeigen, wie es anders geht. Damit sie gesund aufwachsen kann – körperlich und seelisch.

photo by freestocks via unsplash

2 Kommentare zu “Ernüchternde Aussichten und Coping ohne Alkohol

  1. Echt miess von deinem Arbeitgeber!
    Ein Hoch auf die Welt der befristeten Verträge…
    Hättest du mal lieber gemütlich, gemacht #silentQuitting.. 😉

  2. Du hast vollkommen recht, den Frust im Alkohol zu ertränken ist keine Lösung, sich der Situation stellen, dem/den Kind/ern ein Vorbild sein und sie lehren, an solchen Aufgaben zu wachsen, ist der bessere Weg. Alles Gute weiterhin für Euch.

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