Allmählich tauen wir auf und wagen uns an die großen Themen heran, die nun nicht mehr hypothetische, abstrakte Konjunktiv-Konstrukte sind. Was denkst du, wird alles gut werden? Hoffst du, es wird ein Mädchen, ein Junge? Was ist dir beim Namen wichtig? Und natürlich auch pragmatisches: Was steht jetzt an? Frauenarzt, ich frage dann mal nach wegen Corona und Ultraschall, Arbeitgeber informieren, keine Salami mehr, ein bisschen Kalendermathe um den voraussichtlichen Entbindungstermin zu berechnen. Wann und wie sagen wir es wem. Alles neue, aufregende Themen. Ich gönne mir ein bisschen Freude.
Es kann noch verdammt viel schiefgehen
Aber immer wieder erinnere ich Georg auch daran, dass noch viel, alles, schiefgehen kann, gerade so am Anfang. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Dankenswerterweise hält er mir meine Negativität nicht vor. Meine Unsicherheit nervt mich selbst mehr als ihn. In all der Vorfreude, in all der Schönheit, die dieser Tag, dieses neue Kapitel mit sich bringt, kann ich es nicht lassen, mir jedes erdenkliche Horrorszenario auszumalen.
Mir erscheinen ein Tumor, eine Zyste, eine ektopische Schwangerschaft, ein sehr früher, verpasster Spontanabort wahrscheinlicher, als eine normale, langweilige Standard-Schwangerschaft. In meinen Gedanken mache ich mich schon darauf gefasst, das Kind in den ersten Wochen zu verlieren, beruhige mich vorsorglich damit, dass das viel häufiger vorkommt, als darüber geredet wird. Ich bereite mich darauf vor, mich mit dem Thema Behinderung auseinandersetzen zu müssen, mit medizinisch bedingten Abtreibungen. Ich denke an Frühgeburten, Präeklampsie, HELLP-Syndrom.
Irgendwann muss doch etwas Schlimmes passieren
Ganz ehrlich, woran in denke, ist in erster Linie Karma. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass nach all dem, was ich verbockt habe in meinem Leben, nach all dem Missbrauch meiner Selbst, ich jetzt nicht endlich mal den Preis zahlen müsste. Niemand kann so hoch pokern und am Ende doch gewinnen. Etwas muss doch jetzt richtig fehlschlagen, so, dass es wehtut, etwas Großes.
Ich hatte bisher so viel Glück, auch im Unglück. Ich habe nie eine Stelle verloren, obwohl ich auf der Arbeit betrunken war. Bin nie irgendwo aufgeflogen. Alle meine Abschlüsse habe ich mit Bravour, Bestnoten und besoffen beendet. Habe Medikamente und Alkohol gemischt, die mich hätten umbringen können. Habe mich in gefährliche Situationen begeben, Freundschaften und Beziehungen aufs Spiel gesetzt. Und jetzt bin ich hier, ehrlich und glücklich verheiratet, nüchtern, endlich schwanger und sogar mit Job. Irgendwas Schlimmes muss jetzt doch passieren. Ganz bestimmt.
„Die zwei Gläser“
Es platzt aus mir heraus. Ob er mich dafür hasst, dass ich sicher war, dass ich nicht schwanger sei. Wir haben was getrunken, an den Feiertagen, da war ich schon schwanger.
Georg schaut mich überrascht an.
„Was? Nein. Die zwei Gläser.“
Ich fange an, aufzuzählen. Es waren mehr, es waren zwei Gläser Punsch an Silvester und dann noch ein Glas Punsch am nächsten Tag, und ein Schluck Eierlikör, und an Weihnachten –
„Am Anfang ist es doch nicht so wichtig, meintest du.“
Na ja. Es ist immer wichtig. Georg verweist auf die Gynäkologin, sie solle das beurteilen. Ich weiß, er sieht das gerade klarer, und er hat recht. Es war nicht viel. Aber diese zwei Gläser fühlen sich für mich gerade wie zwei leer gesoffene Weinkeller an.
Da war noch was …
Ich schaue in den Becher mit den Resten vom überteuerten Kinderpunsch. Kinder kosten Geld. Ich erinnere ihn daran, dass wir fast eineinhalb tausend Euro für Hormonspritzen ausgegeben haben, die jetzt im Kühlschrank vergammeln. Mit einem lauten, herzlichen Lachen werde ich daran erinnert, dass wir in der Apotheke noch darüber gescherzt haben, wie lustig es wäre, wenn ich nun doch schwanger wäre. Ich schlage mir die Hand vor den Kopf. Zumindest entspannt das ironische Lachen.
Vielleicht, nur ganz vielleicht, wird ja doch alles gut.
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