Ist es das jetzt, das Karma? Der Ausgleich, die Vergeltung für all die Male, in denen ich, nicht zurecht, gerade nochmal davongekommen bin? Schlägt der angesammelte Karma-Kredit nun auf einmal, mit voller Wucht zu?
Keine Schuld
Mit einer Tochter, die vollkommen gesund sein sollte, auf der NICU, liefen meine Gedanken wortlos und erschlagen im Kreis.
Mir wurde mehrmals versichert, dass es nicht an mir lag. Ich glaube sogar, ohne, dass ich gefragt hätte, dass solche Dinge einfach passieren. Dass ich nicht schuld sei, dass nichts schuld sei.
Ich konnte es noch so oft vom medizinischen Fachpersonal hören – innerlich suchte ich trotzdem nach einem Grund, ich suchte nach Schuld, hinterfragte meine Entscheidungen. Die PDA? Die Wanne? Das Oxytocin? Oder eben doch, ganz einfach, Karma?
Offene Rechnung
Ich fühlte mich, als hätte ich noch eine große, angesammelte Schuld beim Schicksal zu begleichen. All das Lügen und Betrügen, all die Male, in denen ich glimpflich davongekommen bin. All die Male, die ich wirklich hätte in Ärger kommen sollen. Die gefährlichen Situationen, in die ich mich begeben habe, in denen ich hätte sterben können. Betrunken Nachhilfe gegeben. Eine Eins kassiert, als ich voll gebechert einen Vortrag in der Universität hielt. Oder allein die Tatsache, dass ich bei den meisten Fahrstunden einen Sitzen hatte. Ich hätte an der Kotze im Bett ersticken können. Ich hätte ausgeraubt werden können, wenn nicht mehr. Ich hätte an kaltem Entzug sterben können. Oder an den 3,5 Promille, mit denen ich noch im Bett lag und nicht preisgeben wollte, getrunken zu haben.
Mit all dem Lügen und Betrügen müsste ich jetzt nicht hier sein. Ich dürfte nicht hier sein, nicht glücklich verheiratet, mit einem gesunden neugeborenen Kind.
Ursachenforschung für das Grundlose
Es waren nicht alles Dinge, die mit Alkohol zusammenhingen. Aber viele. Gedanklich gespalten zwischen meinem Kind, all den medizinischen Fragen und Sorgen, und einer Aufzählung aller möglichen Vergehen und Fehler, die diesen Kollaps begründen könnten. Ohne einen klaren Gedanken, einen vollständigen Satz formulieren zu können. So lag ich da. Ein Denken in einem Wirbel von Gefühlen, Impressionen, Bildern, Wortfetzen.
Dabei bin ich gar kein so spiritueller Mensch. Ich glaube nicht an Übernatürliches. Aber vielleicht ist es leichter, eine Ursache in sich zu suchen, eine Ursache in irgendwas, als zu akzeptieren, dass manche Dinge einfach grundlos passieren.
Endlich im Arm
Am nächsten Morgen wurde ich auf die Wochenbettstation verlegt, ein leerstehendes Zweibettzimmer. Meine Tochter würde bald zu mir können, teilte man mir mit. Ich war aufgeregt, packte meinen Koffer aus, als würde ich Ordnung schaffen wollen für einen Gast. Kurz nach Mittag, als ich es kaum noch vor Vorfreude und Aufregung aushalten konnte, war es so weit. Sie wurde von zwei Mitarbeiterinnen, in einem kleinen Beistellbettchen, hereingefahren. Entkabelt. Ohne Schläuche. Mit viel Kleber im Haar und Zugang auf dem kleinen Handrücken. Und ich konnte sie endlich in die Arme nehmen.
Eine Kopie von mir. Eine Miniatur-Veronika. Es war mir gegenüber Georg fast peinlich. Detailgetreu nachgebaut. Hypnotisch beeindruckt war ich von ihren Händen: Jeder meiner Finger hat eine andere Nagelform. Jeder ihrer Finger hatte genau dieselbe Nagelform. Es waren einfach meine Hände, mit dem krummen kleinen Finger, nur in winzig.
Fünf Tage Krankenhaus
Es folgten noch weitere fünf Tage im Krankenhaus. Alle Tage mit Clara bei mir. Und mit Georg an unserer Seite, teilweise bis weit nach den offiziellen Besuchszeiten hinaus. Es waren keine leichten Tage. Die Kleine war sehr fertig von den ganzen Strapazen und schlief beim Stillen immer wieder ein. Mir wurde klargemacht, dass sie unbedingt Energie braucht. Ob aus Flasche oder Brust, am besten beides, und regelmäßig, und viel.
Immer wieder wurden ihre Blutwerte kontrolliert. Immer wieder der Zugang gespült. Ihre Entzündungswerte gingen hoch und es musste eine Antibiotikagabe erfolgen. Alle 6 Stunden. Es kam also alle 6 Stunden ein Kinderarzt vorbei, um ihr Antibiotika zu verabreichen. Dann ein Antimykotikum, damit sie von den Antibiotika keine Pilzinfektion bekommt. Und wieder Blutkontrolle. Schädelultraschall. Der nie halten wollende Urinbeutel.
Basics und Bonding
Und parallel zu all dem lernten wir noch die simplen Basics, von denen wir bisher natürlich keine Ahnung hatten: Windeln wechseln, stillen, Baby halten, anziehen, waschen, Temperatur messen, Nabelpflege. Und einfach Eltern sein. Eine Bindung aufbauen. Wir wurden zu extra viel Hautkontakt ermutigt und verbrachten dank spätsommerlicher Temperaturen die meiste Zeit oben ohne, mit dem Baby auf der mütterlichen oder väterlichen Brust.
Obwohl ich nicht bei allen Untersuchungen dabei sein musste, war ich stets dabei. Ich wollte sehen, was passiert. Als am vorletzten Tag wieder Blut abgenommen werden musste, fand der Arzt fast keine Stelle mehr zum Stechen. Er warnte mich vor, dass er eventuell am Kopf suchen müsste. Er fand doch noch eine Stelle am Fuß. Als ich wieder mit ihr auf dem Zimmer war, brach ich in Tränen aus. So ein kleines, junges, unschuldiges Wesen. Sie sollte nicht so häufig angezapft werden müssen.
Nach Hause zur Normalität
Und dann war es so weit: Wir wurden entlassen. Die Entzündungswerte waren ok, der Urin eingeschickt. Es klang surreal, als es uns mitgeteilt wurde. Wie, wir sollen jetzt nach Hause? Und allein klarkommen? Seid ihr irre? Keine Bluttests mehr? Keine Untersuchungen alle paar Stunden? Was, wenn doch noch etwas ist?
Und doch: Trotz all der Strapazen der letzten Tage durften wir nun gehen. Mit einer, so wie es aussah, wieder gesunden Tochter. Misstrauen, Sorge, Vorsicht und Angst schwangen mit. Aber natürlich waren da auch einfach Freude und Erleichterung. Wir durften endlich nach Hause. Und unser neues Leben beginnen. Hoffentlich so banal und langweilig, wie man es sich nur vorstellen kann.
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